Die Sonne spitzt durchs Dachfenster. Draußen ist es fast mild, zumindest für arktische Verhältnisse. Wir sind heute früh unterwegs und verabschieden uns von dem schönen Stellplatz am Meer. Nach einer kleinen Tour durch Hamningberg geht es zurück durch die Mondlandschaft und auf die Halbinsel Vardø. Wie auf der Hinfahrt sind wir fasziniert von der Schönheit der Landschaft. Das alles lässt sich nicht wirklich mit der Kamera einfangen und kaum mit Worten beschreiben. Der Himmel ist strahlend blau und die Sonne wärmt meine vom Fahrtwind kalten Finger, denn ich versuche soviel Eindrücke wie möglich einzufangen. Das glitzernde Meer zu unserer Linken, die schroffen, dunklen Felsen auf der rechten Seite. 

Als die Straße durch einen der Felsdurchbrüche führt, habe ich das Gefühl beobachtet zu werden. Ich frage Marco, ob er oben auf dem Felsen auch etwas sitzen sieht. Er verneint und will weiterfahren. Ich schieße ein unscharfes Foto und bitte ihn eindringlich anzuhalten. Da sitzt tatsächlich jemand: majestätisch und mit Adleraugen. Ich schnappe mir das Teleobjektiv und schleiche mich an. „Bitte, bitte, bleib sitzen! Jetzt bloß nicht wegfliegen!“, flehe ich den Weißschwanzadler an. Ich möchte ja nur ein Foto schießen. Mürrisch beobachtet er mich, aber kommt meiner Bitte nach. Ein wunderschönes Tier, aber in seine Fänge möchte ich nicht geraten. irgendwann wird es ihm dann wohl doch zu dumm und wir gehen wieder getrennte Wege. 

Die Halbinsel Vardø ist der östlichste Punkt Nordnorwegens und unweit der russischen Grenze gelegen. Als uns der Röhrentunnel, der ca. 88m unter der Barentssee verläuft, auf der anderen Seite wieder ausspuckt, erwartet uns eine Mischung aus altem Fischerhafen und Militärstützpunkt. Oberhalb der Stadt thront nicht nur die alte Festung „Vardøhus“, sondern auch eine gewaltige Radarstation. Kein Wunder, Vardø war für Norwegen schon immer von strategischer Bedeutung. Die Festung wurde bereits 1306 errichtet und nicht nur zur Verteidigung gegen Russland genutzt. Im zweiten Weltkrieg war sie die letzte Stellung, die sich ergab. Danach war Vardø fünf Jahre lang besetzt. Vardøhus ist noch gut erhalten und überall auf dem Gelände finden sich, noch intakte Kanonen, mit denen sogar regelmäßig geschossen wird. Keine Angst, hier muss sich niemand verteidigen. Die Kanonen donnern nur, wenn nach den langen Polarnächten die Sonne das erste Mal wieder am Horizont erscheint. Dann gibt es Schulfrei, zwei Salutschüsse und ein großes Fest. 

Allerdings hat die Festung auch eine dunkle Geschichte: Verfolgung, Anklage, Folter und schlussendlich der Scheiterhufen: Hier fanden die grauenhaften Hexenprozesse der Finnmark statt. Nach der Anklage war die „Wasserprobe“ ein adäquates Mittel zur Identifikation der Hexen und Hexer. Dabei wurden die, der Hexerei Beschuldigten geknebelt, gefesselt und ins Meer geworfen. Wer unterging, war unschuldig. Wer es schaffte wieder an Land zu kommen, wurde der Hexerei bezichtigt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Nirgendwo in Europa wurden mehr Menschen wegen Hexerei angeklagt und verurteilt, wie in der Finnmark. An der Stelle, wo die Verbrennungen vermutlich stattgefunden haben, steht heute das Hexenmahnmal „Steilneset“ und erinnert an die Gräueltaten. Eine 125m lange Gedenkhalle, liegt vor uns. Innen: düstere, beklemmende Stimmung. Die Dunkelheit wird nur durch kleine Fenster und die davor hängenden Glühbirnen erhellt. Jede repräsentiert eines der 91 Todesopfer ( 77 Frauen und 14 Männer). Daneben befinden sich Informationstafeln mit den Namen und Anklagepunkten: Guri Olufsdatter, Anne Lauritsdatter oder Nils Rastesen. Beschuldigt der Teilnahme an Hexenzirkeln, der Teufelsanbetung oder dem Verhexen von Steinen. Am Ende des Tunnels liegt ein weiteres Gebäude. Darin der brennende Stuhl, umrahmt von sieben ovalen Spiegeln, die, wie die Richter, einen Kreis um die Verurteilen bildeten. 

Die Stadt Vardø ist neben Hammerfest die älteste Stadt Norwegens und war einst ein lebendiges Fischerörtchen. In den 1960er Jahren halbierte sich, aufgrund der Krise der Fischindustrie, die Einwohnerzahl der Stadt und so sind viele der schönen, alten Holzhäuser nur noch von Möwen bewohnt. Und im Gegensatz zu Ekkerøy und Kiberg sind hier sogar welche anzutreffen. Um die Stadt für Touristen attraktiver zu machen und weil viele der verbliebenen Einwohner sich die Restaurierungskosten nicht mehr leisten konnten, wurde 2012 das Projekt „Komafest“ ins Leben gerufen. Zehn, teilweise verlassene Holzhäuser wurden dabei von namhaften Graffitti-Künstlern „verschönert“.

Ein weiteres spektakuläres Kunstwerk steht etwas außerhalb von Vardø auf einer kleinen Anhöhe, direkt an der rauen Küste der Barentssee: der Drakkar Leviathan. Die Skulptur wurde 2016 vom Team Taibola Assemble aus Archangelsk errichtet und vereint die Mythologie der Wickinger mit dem Meer und den Naturgewalten. Sie verbindet die Form eines Drachenbotes, der berühmten Wikingerschiffe, mit dem Leviathan, einem mythologischen Seeungeheuer. Sie zieht uns in ihren Bann und wir verweilen hier an dem ruhigen Ort, machen Fotos in der strahlenden Sonne und wünschen uns ausnahmsweise ein wenig Wolken, um mehr Dramatik in unsere Bilder zu bekommen. 

Am Nachmittag verlassen wir Vardø und die Varanger-Halbinsel und machen uns auf in Richtung.  Nordkapp. Uns erwarten ca. 350 km Strecke und fünf Stunden Fahrtzeit. Natürlich nehmen wir nicht den schnellsten Weg, sondern Wählen die 98, den Tanafjord- und Børselvfjellsveien. Wir überqueren wieder die Tanaelva, bleiben aber auf Norwegischer Seite und suchen uns einen Stellplatz oberhalb eines Fjordes, mit Blick auf Norden. Denn heute ist Sonnensturm angesagt und folglich kann es wieder Nordlichter geben. 

Um 21:45 Uhr schlägt auch die App wieder Alarm. Jetzt muss es nur noch wolkenlos bleiben. Tatsächlich zeigt sich die zickige Dame Aurora gegen 22:15 Uhr mit einem kurzen Spektakel, tanzend vor unserem Fenster. Und obwohl wir noch eine Weile ausharren, geben wir gegen Mitternacht ohne weitere Sichtungen auf und fallen müde ins Bett. Vielleicht haben wir ja Richtung Nordkapp mehr Glück. 


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